Träume galten lange Zeit als Botschaften der Götter, die es zum Wohl von Stamm und Individuum richtig zu deuten galt. Aus dem Jahre 1150 vor Christus stammt die älteste Überlieferung zu dem Thema, das Hieratische (eine von den Hieroglyphen abgeleitete Schrift) Traumbuch der Ägypter, das in Stichpunkten über die Bedeutung der häufigsten Traumsymbole Auskunft gibt. Die Traumbotschaften der Geister und Götter enthielten demnach oft Warnungen vor Gefahren, Ratschläge für Verhandlungen oder Aufforderungen zum Opferbringen. Auch im antiken Griechenland und im Römischen Reich glaubte man an die Götterpost in Traumgestalt. Traumorakel, die die Zukunft prophezeiten, gab es außerdem bei den Chinesen, Israeliten, Babyloniern und Assyrern. Freud war also bei weitem nicht der erste, der sich in Traumdeutung versuchte.
In vielen primitiven Kulturen glaubte man, dass die Seele den Körper im Traum verlässt und auf Reisen geht. Träume sind demnach Erinnerungen an diese außerkörperlichen Exkursionen, weswegen man einen Schläfer nicht unnötigerweise wecken sollte, da sonst die Seele womöglich nicht rechtzeitig in den Körper zurück findet. In der Bibel findet man Traumschilderungen, die oft als Prophezeiung künftigen Geschehens gedeutet wurden, wie zum Beispiel Josefs Traum von den sieben fetten und den sieben mageren Jahren. Auch der abendländische Gott offenbarte sich also in Traumbildern und Gläubige wie die Ordensgründer Franz von Assisi oder Don Bosco gaben an, mit Gott über ihre Träume in Verbindung zu stehen.
Für Sigmund Freud (1856-1939), den Begründer der Psychoanalyse, waren Träume nicht mehr Botschaften übernatürlicher Wesen, sondern Nachrichten der Träumerpsyche. Die Traumdeutung war für ihn ein Weg zum Unbewussten des Träumers und damit zum Wesen seiner Persönlichkeit. Jedoch deutete er Symbole und Bilder nie für sich genommen, sondern stets im Zusammenhang mit der jeweiligen Biografie. Nach Freuds Meinung waren Träume nur zu einem geringen Teil Verarbeitung von Sinneseindrücken und Erlebnissen des vergangen Tages, sondern vielmehr von äußeren Faktoren unabhängige Produkte der Psyche. Er schrieb sie dem Es, also dem ursprünglichsten Teil der menschlichen Psyche zu und bezeichnete sie als triebhafte Wünsche, die das Ich als Mittler zwischen Gesellschaft und Es so überformt, dass sie uns nicht bewusst werden.
Der Psychoanalytiker sucht nun im Falle einer Erkrankung, dem Patienten jene Trauminhalte als Ausdruck seiner unbewussten Wünsche wieder bewusst zu machen. Denn nur durch die bewusste Beschäftigung mit dem Wunsch, der oft durch frühkindliche Erlebnisse und Manifestationen hervorgerufen wird, kann der Patient eventuelle Traumata verarbeiten und die Krankheit kann geheilt werden. Der Analytiker bedient sich dazu im wesentlichen der Freien Assoziation, bei der der Patient aufgefordert wird, sowohl spontane, unkritische als auch reflektierte Ideen zu seinen Trauminhalten zu nennen. So wollte Freud den Kern und die Botschaft des Traums ausfindig und dem Patienten bewusst machen.
Freuds Traumdeutung hatte zu seiner Zeit viele Anhänger, aber auch viele Gegner, darunter einen seiner eigenen Schüler, C.G. Jung, der sich im Unterschied zu Freud neben Wunschvorstellungen sexueller Natur auch noch andere Gründe für Traumsymbole vorstellen konnte. Außerdem ging er nicht mehr von der Assoziation des Patienten, sondern von so genannten Archetypen aus. Diese Teile der Psyche, die einem allgemeinen, kollektiven Unbewussten entspringen, fasste er in einem Katalog zusammen, mit dessen Hilfe er die Träume seiner Patienten deutete.
Heute gilt Traumdeutung den meisten Therapeuten nur noch als ein möglicher Teil einer umfassenden Therapie, der dem Therapeuten weiteren Aufschluss über die Persönlichkeit des Patienten geben kann. So sprechen manche Menschen lieber über einen Traum als direkt über unangenehme Gefühle oder Erlebnisse. Insgesamt ist aber auch dann Traumdeutung nur sinnvoll, wenn der Therapeut den Patienten, seine Vergangenheit und Lebenssituation sehr gut kennt. Wenn Laien mit populärwissenschaftlichen Büchern zur Traumdeutung ihr Seelenleben erkunden, ist dies allerdings nur amüsanter Zeitvertreib.
Autor: Michael Babilinski